Tag der Demokratie – Wie sieht es aus in Deutschland?

Der 15. September ist der Internationale Tag der Demokratie. Schauen wir nach Deutschland, dann gehört die direkte Demokratie neben Parlamentarismus und Bürgerbeteiligung zu den tragenden Säulen des Demokratie-Gebäudes. Doch langsam … so sollte es sein! Noch fehlen bundesweite Volksabstimmungen als Schlussstein im Beteiligungsgewölbe.

Heute vor genau drei Jahren, am 15. September 2017, haben der OMNIBUS für direkte Demokratie, Mehr Demokratie und Democracy International zu einem großen Kunst-Ereignis direkt vor dem Brandenburger Tor eingeladen: Im Zentrum stand die Idee des Mitbestimmens und Selbstbestimmens, auch auf Bundesebene (hier im Kurzfilm das Demokratie-Event nochmal Revue passieren lassen: https://vimeo.com/234458155). Am selben Tag hat sich das Bündnis „Jetzt ist die Zeit: Volksentscheid. Bundesweit.“ zum ersten Mal getroffen. Was ist seitdem passiert und wie steht es heute um die direkte Demokratie auf Bundesebene?

Eine kurze Chronologie:

15. November 2017: Mehr Demokratie e.V. übergibt 275.162 Unterschriften des Bündnisses „Jetzt ist die Zeit: Volksentscheid. Bundesweit.“ an CSU, Grüne und FDP. Diese einigen sich im Rahmen der „Jamaica“-Sondierungsgespräche auf eine Formulierung zum Ausbau der Demokratie auf Bundesebene. „Wir wollen die parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzen.“ Die Jamaica-Koalition kommt aber nicht zustande.

Anfang 2018: Nach langem Ringen einigen sich CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag auf folgende Formulierung: „Wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann. Zudem sollen Vorschläge zur Stärkung demokratischer Prozesse erarbeitet werden.“

13. September 2019: In Leipzig beginnt der erste bundesweite losbasierte Bürgerrat Deutschlands zu tagen. Im Zentrum des „Bürgerrats Demokratie“ steht die Frage aus dem Koalitionsvertrag, wie die Demokratie in Deutschland zukünftig gestaltet werden soll. Damit springt die Zivilgesellschaft selbst in die Bresche und mahnt damit die versprochene Expertenkommission an.

15. November 2019: Das Bürgergutachten des losbasierten Bürgerrats Demokratie mit 22 Empfehlungen zum Ausbau der Demokratie wird an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und die Fraktionen im Bundestag übergeben. Wolfgang Schäuble verspricht, das Gespräch über die Vorschläge voranzutreiben.

18. Juni 2020: Der Ältestenrat des Bundestages folgt dem Vorschlag des Bundestagspräsidenten nach einem weiteren Bürgerrat und einigt sich auf das Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“.

Während Bürgerräte boomen und sich Politikerinnen und Politiker zunehmend dafür öffnen, erleben wir beim Thema direkte Demokratie auf Bundesebene eher Rückschritte.

Besonders deutlich wird das derzeit an der Position des Grünen-Bundesvorstands, der in Sachen direkter Demokratie eine Kehrtwende einleiten möchte …

Ein Zwischenruf von Mehr Demokratie-Vorstandssprecher Ralf-Uwe Beck zur direkten Demokratie und Parteipositionen

„Vielleicht ein Versehen, dachten wir, als Ende Juni der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm veröffentlicht hat. Es fehlte der bundesweite Volksentscheid. Sofort sind bürgerbewegte Grüne in die Spur gegangen. Es war ja nur ein erster Entwurf. Die Grünen werden sich doch nicht von einem ihrer Gründungsimpulse verabschieden. Doch, genau das hat der Bundesvorstand getan. Die Forderung nach Einführung des bundesweiten Volksentscheids ist auch aus dem offiziellen, Ende August vorgestellten Entwurf für das Grundsatzprogramm gelöscht. Was soll das?

Bewegt sich die „Bewegungspartei“ weg von der Bevölkerung?

Die Grünen hatten sich bisher als „Bewegungspartei“ verstanden, als Sprachrohr der Zivilgesellschaft. Das gilt dann nicht mehr, wenn diese Zivilgesellschaft nach einem Instrument verlangt, sich durchsetzen zu können? Da soll sie dann von den Grünen und ihrem Mitregieren abhängig sein? Oder will der Bundesvorstand die Grünen für die Union weichspülen und so die Partei auf Regierungskurs bringen? Dabei ist doch die Union gar nicht mehr geschlossen gegen den bundesweiten Volksentscheid.

Die CSU ist 2016 den umgekehrten Weg gegangen und hat per Mitgliederbefragung die Forderung nach direkter Demokratie auf Bundesebene ins Grundsatzprogramm übernommen. Gehen die Grünen den entgegengesetzten Weg? Mindestens offenbart sich hier ein abgehobenes Politikverständnis des Bundesvorstandes. War das nicht die Position von Joschka Fischer, zu meinen, wenn die Grünen regieren … wozu dann noch direkte Demokratie? Erleben wir mit dem Habeck-Baerbock-Duo eine Neuauflage dieser Selbstherrlichkeit? Selbstherrlichkeit?

Wie weiter, was heißt das für die Kernforderung von Mehr Demokratie e.V.? Erst geht die SPD auf Abstand und tilgt die Forderung aus dem 2017er Wahlprogramm, jetzt die Grünen – aufgeschreckt vom Brexit und verunsichert durch die AfD. Damit überlassen sie der AfD das Feld, die mit der direkten Demokratie nicht den Parlamentarismus stärken, sondern ihn angreifen will. Besser wäre, sich ernsthaft mit unserem Demokratiesystem, der Krise der Repräsentation, dem Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen zu befassen und zu diskutieren, wie wir verfasst sein wollen – demokratisch und überhaupt.

Mit der Blockade der direkten Demokratie suggeriert die CDU und mit der Abkehr suggerieren SPD und Grüne, sie müssten ja nur regieren, dann würde alles schon irgendwie gut. Hier aber krähen die Hähne zu laut auf dem Mist, zumal wenn darunter ungelöste Probleme verborgen sind.

Wo stehen wir also mit der Forderung nach dem bundesweiten Volksentscheid?

Die Expertenkommission, die der Koalitionsvertrag vorsieht, sollte unter anderem diese Frage beantworten: „Wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann.“ – Da waren wir 2018 guter Hoffnung. Noch im November des vergangenen Jahres hat Thorsten Frei, stellvertretender Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion auf einem Podium verkündet: „Die Kommission kommt.“ Aber das stimmt nicht, sie kommt eben nicht.

Wir wollten der Kommission mit unserem Bürgerrat Demokratie entgegenkommen. Unseren Teil haben wir beigetragen, die 22 Empfehlungen für einen Ausbau der Demokratie liegen bei den Fraktionen. Wir werden jetzt einmal nachfragen, was daraus geworden ist und was sie so vorhaben, um die Empfehlungen, die ja immerhin repräsentativ sind für die Bevölkerung, Wirklichkeit werden zu lassen. Ja, ein Unterausschuss Ehrenamt diskutiert die Vorschläge und der Ältestenrat des Bundestages hat sich für einen Bürgerrat zu Deutschlands Rolle in der Welt entschieden. Immerhin. Das könnte ein Schritt sein, Bürgerräte zu etablieren, muss aber nicht.

Bürgerräte können überall dort sinnvoll sein, wo Bürgerkompetenz den politischen Spielraum weiten könnte: beim Wahlrecht, bei der Aufarbeitung der Corona-Krise, beim Klimaschutz – dort vor allem. Aber Achtung, bei aller Begeisterung für das Instrument: Wer nach Bürgerräten auf Bundesebene ruft, muss auch dem bundesweiten Volksentscheid das Lied singen. Bürgerräte sind unverbindlich, sind Ratschlag – wenn auch ein besonderer, weil sie Gräben in der Bevölkerung überwinden, Menschen aller Milieus ins Gespräch bringen und sie beteiligen können, weil sie zu Ergebnissen finden, die wir uns selbst kaum zutrauen und zu der die Politik nicht fähig ist. Sie sind ein exzellenter Beteiligungsraum. Aber: Hinter jeder Tür eines Beteiligungsraumes wartet die Genugtuung oder die Enttäuschung. Es könnte sein, dass die Forderungen der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich von der Politik aufgenommen werden. Es könnte aber auch sein, sie werden einfach ignoriert.

Das Recht auf Abstimmungen bleibt der Schlussstein

Gerade weil Bürgerräte dort gefordert werden, wo die Politik keine überzeugenden Lösungen präsentiert, setzt es, soll die Politik Forderungen übernehmen, ein Bewusstsein für die eigenen Mängel, mitunter die eigene Belanglosigkeit voraus. Die Nadel im Heuhaufen ist leichter zu finden, zumal die Angst vor dem Gesichtsverlust oft genug die Parteien auf der Stelle treten lässt. Deshalb kommt es wie bei einem gemauerten Gewölbe bei der Bürgerbeteiligung auf den konisch zugehauenen Schlussstein an. Er erst legt Spannung auf das gesamte Gewölbe, so dass es auch dauerhaft stabil bleibt und nicht zusammenbricht. Die einzelnen Steine sind die Instrumente der Bürgerbeteiligung, der Schlussstein ist die direkte Demokratie. Nur mit ihr können wir uns vom Regierungshandeln unabhängig machen und beanspruchen, selbst über eine Sache abzustimmen. Das macht der Politik Beine und lässt sie Bürgerbeteiligung, Bürgerräte, ja die Bürgerinnen und Bürger ernster nehmen. Mehr Demokratie muss diese Fahne hochhalten, auch wenn andere sie vom Mast holen wollen. Und der Parteitag der Grünen ist Ende November. Dann erst wird das neue Grundsatzprogramm beschlossen. Wir setzen auf die grüne Basis und ihr Gespür dafür, was eine „Bewegungspartei“ wirklich ausmacht.